Huayna Potosi Tag 3 – Grenzerfahrung auf 6088 Höhenmetern



 

Schlafen im High-Camp war ’ne recht eigenartige Sache. Die Temperatur auf dem Dachboden war ok, ca. 0 Grad haben mein Schlafsack und meine drei Hosenschichten gut verkraftet. Aber erstens ist Schlafen um 18 Uhr ziemlich ungewohnt, zweitens auf 5130 Metern Höhe nicht ganz einfach. Der Sauerstoffgehalt der Luft beträgt hier nur noch 50% im Vergleich zu Meereshöhe, der Atemreflex passt sich aber nicht so schnell den veränderten Bedingungen an. Ich bin immer wieder aufgewacht mit dem Gefühl, keine Luft zu bekommen, hab dann einige Minuten so viel geatmet, wie ich konnte, bevor ich mich wieder wohl fühlte.

Um Mitternacht wurden wir geweckt, denn die Gipfelbesteigung sollte um 1 Uhr nacht beginnen. Einerseits, um den Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu erleben, andererseits, weil das Laufen auf dem Schnee einfacher ist, bevor die Sonne ihn antaut. Es gab Frühstück, Paul konnte aber immer noch nichts essen. Ich fragte mich, woher er die Energie für den Aufstieg nehmen wollte, aber er wollte unbedingt mitkommen. Nach und nach starteten alle Gruppen, auch wir legten unsere Ausrüstung an und legten los. Raus ging’s in die -15 Grad kalte, stockdunkle Nacht.

Frühstück um MitternachtStart um 1 Uhr nachtsDie letzten MeterAngekommen auf dem GipfelSonnenaufgangGlücklichDa unten waren wirBerggipfel - alle niedriger als wir :)Abseilen nach untenAtemberaubende LandschaftAbwärtsDa oben waren wirBlick zum Base-Camp (am See)Wieder im Base-Camp, letzter Blick zurück

Unser Führer sicherte uns mit einem Seil, das uns alle verband, damit niemand unbemerkt in einer Gletscherspalte endete. Dann ging’s mit den Steigeisen über Schnee und Eis aufwärts. Eins war klar: Wenn unterwegs ein Unfall passieren sollte, war jede Hilfe Ewigkeiten entfernt. Jemand müsste runter zum Base-Camp klettern und von dort aus Hilfe rufen. Hubschrauber können wegen des niedrigen Luftdrucks nicht höher als 4000 Meter fliegen, die einzige Möglichkeit wäre also ein stundenlanger Aufstieg und Abstieg mit Trage.

Schritt für Schritt stiegen wir bergauf, bewaffnet mit Head-Lights, die ein klitzelkleines Guckloch in die Dunkelheit leuchten konnten. Die Steigeisen gaben auf dem festen Schnee guten Halt, aber der Hang wurde steiler und steiler. In der Ferne konnten wir die Lampen der anderen sehen, die Höhe ließ erahnen, wie weit es noch raufgehn würde.

Der Hang wurde so steil, dass man die Schuhe nur noch quer zum Hang aufsetzen konnte. Das Atmen wurde jetzt sehr, sehr mühselig, die einzige Möglichkeit, genug Sauerstoff in den Körper zu bekommen, war, bei jeden Schritt mit so viel Druck wie möglich ein- und auszuatmen. Das Problem dabei war, dass dieser Prozess nicht für einen Moment unterbrochen werden durfte. Wenn ich schlucken musste, konnte ich für einen Moment nicht atmen und japste danach ’ne ganze Weile nach Luft. Es war also jedes Mal ’ne schwierige Entscheidung, schlucken oder nicht schlucken, Nase laufen lassen, hochziehen oder gar ausschnauben?

Ich bewunderte Paul, wie er ohne jede Nahrung im Magen mitzog. Er war sichtlich schwach auf den Beinen, kämpfte aber wie ein Tiger. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir keuchend bergauf stapften und zusehends schwindenden Kräften, sahen wir schemenhaft am Horizont etwas aus dem Dunkel ragen. Sollte das der Gipfel sein? Wir fragten unseren Führer, wie weit es noch ist. Die Antwort war ernüchternd: In einer Stunde sollten wir erst die Hälfte erreichen.

Wir trotteten weiter, ich schaltete mein Gehirn fast komplett ab und konzentrierte mich nur noch auf den nächsten Schritt und den nächsten, tiefen Atemzug. Ich glaubte nicht wirklich daran, diese Tortur mit steigender Höhe und schwindendem Sauerstoff bis zum Ende durchzuhalten. Noch mehr Sorgen machte ich mir um Paul, der nicht mehr besonders bei Kräften war.

Wir legten eine Pause ein, unser Führer sagte, dass wir uns nun auf 5800 Metern Höhe befanden. Paul meinte, dass seine Hände fast eingefroren seien und er sie nicht mehr warm bekomme, außerdem war er wirklich fix und fertig. Er wollte aufgeben, meinte, dass er nicht mehr weiter kann und zurück muss. Hinter uns war noch eine Gruppe mit Führer unterwegs, ich fragte unseren Führer, ob ich mit denen weiter nach oben könnte. Er wollte fragen, in dem Moment wäre ich ehrlich gesagt nicht wirklich traurig gewesen, mit Paul zurück zu müssen, weil meine Kräfte mich auch langsam verließen. Wenn es aber die Möglichkeit gab, wollte ich’s trotzdem weiter versuchen.

Nach fünf Minuten kam der andere Führer an. Doch Paul raffte sich plötzlich auf, er hatte seine Hände in den Achselhöhlen aufgewärmt, wieder etwas Kraft getankt und wollte tatsächlich weiter nach oben. Respekt! Durch den längeren Zwischenstopp waren meine Zehen ziemlich kalt und taub geworden. In diesem Moment wurde mir plötzlich klar, dass das nicht ganz ohne war. Wenn Finger oder Zehen hier so kalt würden, dass man die nicht mehr warm bekäme, würde es Stunden dauern, zum High-Camp zurück zu laufen um sich aufzuwärmen, Erfrierungen wären fast vorprogrammiert.

Ich versuchte nun, bei jedem Schritt die Zehen einmal anzuziehen und wieder auszustrecken, um sie in Bewegung zu bringen. Das war nicht ganz einfach, denn diese zusätzlich Kraft konnte ich auf den steilen Hängen nicht aufbringen. Auf den etwas flacheren Strecken funktionierte das aber ganz gut und nach 20 Minuten fühlte ich meine Zehen wieder.

Wir stapften und stapften wortlos und schnaufend durch die Nacht. Paul bat immer öfter um eine Pause, ich glaubte nicht, dass er bis zum Ende durchhalten würde. Doch Stunde um Stunde schritten wir weiter. Mir ging’s eigentlich ganz gut, bis auf die immer größere Herausforderung, genug Sauerstoff in den Körper zu bekommen. Ich spürte, wie die Energie langsam aber sicher aus meinem Körper wich.

Ich wusste, dass das letzte Stück zum Gipfel eine 65 Grad steile, 240 Meter lange Wand sein würde. Wenigstens bis dorthin wollte ich kommen, das war jetzt mein Ziel. Wir legten eine Pause ein, dann wurde es plötzlich mächtig steil, ca. 45 Grad. Quer zum Hang stiegen wir Schritt für Schritt nach oben. In dieser Höhe konnten wir pro Schritt nur noch 20 Zentimeter zurücklegen, mehr war aus unseren Körpern nicht mehr heraus zu holen. Bald ging es so nicht mehr weiter, denn der Hang wurde noch steiler. Wir hatten die 65-Grad-Wand erreicht.

Ich konnte nicht mehr, wir machten eine Minute Pause. Ich holte ein Snickers aus meinem Rucksack, um etwas Energie zu tanken… aber es war gefroren und ließ sich nur unter Gefahr eines Zahnverlusts verspeisen. Ich wollte einen Schluck aus meiner Wasserflasche nehmen, sie fiel mir aus der Hand und rutschte in die Tiefe der Nacht. Plötzlich bekam ich eine unglaubliche Wut auf diesen Berg. Erstens hat er mir mein Snickers eingefroren, zweitens mein Wasser weggenommen und drittens gab er mir nicht genug Sauerstoff zum Atmen. Dir werd ich’s zeigen, dachte ich mir.

Es ging nun nur noch mit der Eisaxt weiter: Ausholen, zuschlagen, festhalten, sich hochziehen und mit den Steigeisen Halt suchen. Jeder Schritt fühlte sich an, als wäre es der letzte machbare, ich atmete so tief und schnell ich konnte und bekam doch nicht genug Luft. Unser Führer war vor mir, Paul hinter mir. Unglaublich weit oben sah ich die Lichter der anderen, ich war 100%ig sicher, dass meine Energie nicht mehr bis dorthin reichen würde. Aber ich setzte mir ein letztes Ziel: Ich wollte die Mitte der 240-Meter-Wand erreichen, um wenigstens auf 6000 Metern Höhe gesen zu sein.

Wir legten immer wieder Pausen ein, das war hier aber nur an der Wand lehnend, mit einer Hand an der Eisaxt hängend, möglich. Dadurch wurde es innerhalb einer Minute so kalt, dass wir uns weiter bewegen mussten. Die kurzen Pausen schienen recht gut Energie zu geben, aber nach drei kräftigen Schritten war der gewonnene Sauerstoff wieder aufgebraucht und es ging fast nicht mehr weiter.

Nach ewiger Tortur meinte unser Führer, dass wir die Hälfte der Wand erreicht hätten. Da wollte ich hin, 6000 Meter, aber jetzt aufgeben? 120 Meter vor’m Ziel? Ich zog mich Schritt für Schritt weiter nach oben. So lange ich nicht ohnmächtig würde, würde ich nicht mehr aufhören, schwor ich mir. Ich schaute nicht mehr nach vorne, sondern nur noch direkt zwischen meine Füße, so wirkte sie Wand nicht so steil. Den Trick hatte ich als Kind oft benutzt, wenn ich von der Schule den steilen Berg nach Hause laufen musste.

Mein Herz raste, meine Lunge schrie nach Luft, aber ich schob mich Schritt für Schritt nach oben. Ich hörte von hinten Pauls Stimme, er brauchte eine Pause. Wir legten uns an den Hang, ich spürte ein klitzekleines Stück Energie in meinen Körper zurück kriechen. Unser Führer rief, dass wir nun noch ein Viertel der Wand vor uns hätten. Langsam setzte die Morgendämmerung ein. Wir rafften uns auf und kämpften uns weiter nach vorne, Schritt für Schritt. Ich konnte weder klar denken, noch richtig sehen. Doch in ca. 10 Metern Entfernung sah ich plötzlich verschwommen einige Gestalten stehen. Stehen? Das musste eine gerade Zwischenebene sein, perfekt für eine Verschnaufpause!

Ich wollte nur noch dorthin, versuchte richtig Gas zu geben, aber mir blieb die Luft weg. Die einzige Möglichkeit, nochmal Sauerstoff in meinen Körper zu kriegen, war zu hyperventilieren. Ich atmete so schnell ich konnte, bekam so einen letzten Kraftkrümel und schob mich damit schließlich über die Kante zur Zwischenebene. Ich rollte mich auf den Rücken und lag mit geschlossenen Augen im Schnee. Mein Herz fühlte sich an wie ein Trommelwirbel, meine Lunge japste nach Luft. Nach einer Minute öffnete ich die Augen und sah im Morgengrauen, dass es nicht mehr weiter nach oben ging. „Ist das der Gipfel?“ fragte ich ungläubig. „Na das will ich doch hoffen!“ schallte es mir lachend von einem Kollegen entgegen. Ich hatte es geschafft!

Dann entdeckte ich Paul, der halb weinend vor Glück neben mir lag. Wir fielen uns in die Arme und beglückwünschten uns. Nach und nach kamen alle oben an, von den 10 Leuten hatte es jeder geschafft. Inzwischen war es 7 Uhr, langsam schob sich die Sonne über den Horizont und tauchte alles in ein wunderbares, rotes Licht. Zum ersten Mal an diesem Tag konnten wir unsere Umgebung sehen. Wir waren umgeben von schneebedeckten Gipfeln, die aber allesamt unter uns waren, ein erhebendes Gefühl! Die Sonne stieg schnell höher und wärmte uns auf. Nach 20 Minuten Glück ging an den Abstieg.

Mit Seilen gesichert stiegen wir die Wand wieder hinab, ohne wäre es Wahnsinn gewesen, denn wenn man auf der 65-Grad-Wand den Halt verliert, hat man keine Chance. Danach liefen wir den ganzen Weg zurück Richtung High-Camp. Endlich konnten wir die wunderschöne Landschaft sehen, die uns umgab. Ich war ziemlich froh, dass wir den Aufstieg in der Nacht hinter uns gebracht hatten, denn nun wurde erst richtig klar, welch unglaubliche Hänge wir hinaufgestapft waren. Hätten wir das vorher gesehen, hätte wahrscheinlich der ein oder andere aufgegeben.

Der Abstieg dauerte ca. zwei Stunden. Wir mussten bald feststellen, dass es auch kein Kinderspiel war, mit Steigeisen steile Schneehänge runter zu laufen, zudem hatten wir inzwischen so gut wie keine Energie mehr im Körper. Irgendwann konnten wir in weiter Ferne das High-Camp sehen, in viel zu weiter Ferne. Aber was blieb uns übrig, wir konnten ja schlecht im Schnee liegen bleiben.

Eine halbe Stunde später kamen wir endlich am Ende des Schneefelds an, machten die Steigeisen los und mussten nur noch 50 Meter bergauf zum High-Camp laufen. Bergauf, das war das Problem. Nach drei Schritten konnte ich nicht mehr, Paul setzte sich auf einen Stein, aber ich wollte nicht aufgeben. Ich sah die rettende Bank direkt vor mir, und doch war sie fast unerreichbar fern. Ich versuchte nochmal meinen Hyperventilier-Trick… es klappte, ich schaffte die paar Schritte und fiel halb tot auf die Bank. Geschafft!

Unglaublicherweise mussten wir aber noch unsere Ausrüstung zum 400 Höhenmeter niedrigeren Base-Camp schleppen. Doch vorher war uns eine Stunde Pause gegönnt, wir fielen auf die Matratzen auf dem Dachboden, schliefen ein und nach und nach gesellten sich die anderen dazu. Nach einer Stunde wurden wir geweckt und sollten weiter zum Base-Camp. Ein paar ganz verzweifelte bestachen ihre Führer mit ein paar Bolivianos, damit sie noch eine halbe Stunde länger schlafen konnten. Ich fühlte mich erstaunlicherweise wieder recht fit und war bereit zum Abstieg.

Nach ’ner weiteren Stunde kamen wir schließlich im Base-Camp an. Erst langsam wurde uns klar, was wir hinter uns hatten. Es fühlte sich nicht wirklich real an, eher wie ein langer Traum. Ein Blick zurück zum Gipfel ließ den Tag noch unwirklicher erscheinen. 12 Stunden vorher waren wir aufgestanden und dort hochgestiefelt? Unglaublich!

Ein Auto brachte uns wieder nach La Paz, auf der Fahrt spürte ich plötzlich ungeheuren Stolz in mir aufsteigen. Ich bin noch nie so nah an der Grenze meiner körperlichen Kräfte gewesen, wirklich kurz davor, vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden. Und doch hatte ich es geschafft. Noch mehr muss ich allerdings Paul bewundern, der das Ganze mit Lebensmittelvergiftung und ohne Essen im Magen gemeistert hat. Er war allerdings zu schwach, um stolz zu sein und schlief im Auto sofort ein.

Jetzt sind wir wieder in La Paz, die Luft auf 3600 Höhenmetern fühlt sich nun an wie die reinste Sauerstoffoase. Vor vier Tagen hab ich hier noch geschnauft und gejapst. :) Jetzt muss ich erstmal langsam begreifen, was wir heute vollbracht haben.